Lenya saß nachdenklich auf dem Stuhl und musterte den Sonnenuntergang, nicht mehr lange und Maricus würde wieder zu ihr kommen, sie freute sich darauf. Der Tag war anstrengend gewesen und sie konnte fühlen, wie verspannt sie war. Zuviel bedrückte sie, zuviel beschäftigte ihren Geist und verhinderte, dass sie einfach abschalten und sich entspannen konnte. Die Probleme ihrer Kollegin mit deren Ehemann, die Verletzung von Ischnia, der Hündin ihrer Freundin und noch tausend andere Gedanken brandeten in ihrem müden Gemüt umher und raubten ihr jegliche Kraft. Sie hatte noch nicht einmal die Motivation aufzustehen, sich an den Schreibtisch zu setzen um sich all dies von der Seele zu schreiben, es danach zu sortieren und anschließend zu verbrennen, wenn sie ihre Gedanken geordnet hatte.
Die letzten Strahlen der Sonne waren kaum verblasst, als sie einen kühlen Hauch wahrnahm. Maricus war gekommen, wie jeden Abend, seit sie sich kannten. Er tauchte einfach auf und war da. Manchmal war Lenya sich nicht sicher, dass er real war. Doch zählte das nicht für sie, zumindest versuchte sie recht erfolgreich sich eben dieses einzureden. Viel mehr interessierte sie seine Fähigkeit ihre kreisenden Gedanken zur Ruhe zu bringen, das unerträgliche Chaos in ihrem Innern zu besänftigen und die lästigen Fragen des Lebens zumindest für eine gewisse Zeit beiseite zu schieben. Und nicht zu vergessen, sein unerhört begnadetes Talent für Massagen. Selbst, wenn er sie manchmal nur zehn Minuten massiert hatte, ging es ihr danach besser, als nach jeder Entspannungsübung.
So schloss sie nur die Augen und überließ sich den sanften und sehr fähigen Händen von Maricus. Den lästigen Gedanken, was Maricus ihr eigentlich bedeutete, wieder einmal beiseite schiebend. Es dauerte eine Weile, dann trieb Lenya in einem Meer aus Entspanntheit.
Dies wurde durch einen jähen Schmerz beendet, der durch ihren Körper tobte. Lenya fühlte Übelkeit aufsteigen, wollte noch etwas sagen, doch da wurde es schon schwarz um sie.
Entgegen aller Aussagen über Ohnmacht die sie kannte, fühlte sich alles sehr real an. Sie stürzte durch nicht enden wollende Schwärze ohne jegliches Körpergefühl. Nach Ewigkeiten veränderte sich etwas in der Dunkelheit, ihr Sturz endete und sie hörte das Tropfen von Wasser. Sie spürte ihren Körper, auch wenn es anders als sonst war. Sie schwebte über dem Wasser, als sie die Augen öffnete und hinuntersah. Langsam glitt ihr Blick an sich selbst hinab. Auch ihr Aussehen war verändert, sie wirkte zerbrechlich wie eine Elfe und nun da ihre Aufmerksamkeit darauf gelenkt worden war, spürte sie die zarten Flügel, welche sie mit unablässigen Bewegungen in der Luft hielten, an ihrem Rücken. Behutsam konzentrierte sie sich darauf tiefer zu sinken, so dass sie das Wasser genau berührte ohne darin einzutauchen. Sie atmete tief aus und ein.
Dann fühlte sie den Wassertropfen fallen, glitt mit ihm in das Wasser und begann das Leben darin zu erkunden. Sie fühlte eine neue und doch sehr vertraute Kraft durch sich strömen, die sich stetig mit ihrem Puls vereinigte und sie mit etwas anderem konfrontierte.
Schmerz.
Schmerz in unerträglichem Maß hatte sie hierher gebracht und ihr eine völlig fremde Welt eröffnet, in der sie zerbrechlich und ungeschützt war. Und nun nahm dieser Schmerz sie wieder fort von jenem Ort, der so viele Lockungen und Reize nach ihr auswarf, dass sie sich leer und nackt fühlte, als sie jäh in ihre eigene Welt zurückgeworfen wurde.
"Shht.", ruhige Wärme umstreichelte ihren schmerzenden Körper. Sie wusste, dass es Maricus war, der an ihrer Seite über sie wachte und sie zurückgeholt hatte.
"Ganz ruhig, du musst schon weiteratmen Lenya.", meinte er leise. Sie fühlte seine Worte, mehr als sie diese hörte. Es wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass es die ganze Zeit so gewesen war. Maricus gluckste leise, als hätte er ihren Gedanken gehört. Wahrscheinlich hatte er das auch. Sofort setzte das Gedankenkarussell aus hätte, wenn, vielleicht, eventuell und möglicherweise wieder ein.
"Du denkst schon wieder zuviel nach.", neckte er sie und einen Moment danach kehrte wieder Ruhe in Lenyas Gedanken ein. Maricus beobachtete lächelnd wie sich das Gesicht der Frau entspannte und ihre Atemzüge regelmäßiger wurden, bis sie schließlich eingeschlafen war. Es würde eine lange Nacht, mit unglaublich vielen Fragen werden, sobald sie wieder erwachte. Er lachte leise. Oh ja, Lenya würde ihm ganze Enzyklopädien in den Bauch fragen, keine einzelnen Löcher, wie bei seinen bisherigen Besuchen. Und, wenn er ehrlich war, dann wusste er noch nicht, wie er ihr all diese Fragen beantworten sollte. Schließlich war auch er nicht allwissend. Selbst mit seinen nun annähernd fünfhundert Jahren. Die Welt war auch für ihn noch ein Mysterium. Selbst wenn er verhältnismäßig mehr davon verstand als die Menschen, welche nur so kurz unter den Untoten weilten, von Ausnahmen abgesehen.
~*~
Kopfschmerzen waren das erste, das ihr erwachtes Bewusstsein erreichte. Mühsam blinzelnd schlug sie die Augen auf. Statt ekeliger Helligkeit, wurde sie von mildem Dämmerlicht begrüßt. Und nur einen Moment danach fühlte sie Maricus Präsenz, welcher sie sanft anlächelte.
"Du lernst wirklich schnell.", seine Stimme klang amüsiert und erfreut.
Lenya wollte etwas sagen, doch Maricus schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. Sie spürte, dass sie sprach, konnte aber ihre eigene Stimme nicht hören. Was sollte das?!? Verärgert setzte sie sich auf und nur einen Augenblick danach stand sie neben Maricus, welcher sich im dunklen Flur aufhielt.
"SOLL DAS?", ihre Stimme kehrte so jäh zurück, dass Lenya erschrocken zusammenzuckte und sich an die Wand lehnte, während ihr Herzschlag sich beruhigte.
"Ich sagte doch, Du lernst schnell.", dieses Mal schwang leichter Tadel in seiner Stimme mit. Wieder unterbrach er ihre Gedanken und antwortete ihr laut. "Ich habe Dir einen Gefallen getan und dafür schuldest Du mir etwas, nicht jetzt. Irgendwann, sofern Du Dich entschließt mich zu begleiten. Aber Du wolltest Deine Existenz nicht aufgeben. Zwar kannst Du nicht weitermachen wie bisher, aber Du wirst sehen, auch mein Weg bietet vieles von dem bisher Gewohnten, vielleicht etwas anders... Aber sieh es Dir doch erstmal an."
Lenya hatte keine Zeit sich Gedanken zu machen, was Maricus meinte, denn er zog sie einfach mit sich aus der Wohnung. Diese verschwamm und um die beiden materialisierte sich etwas Neues, Fremdes. Erstaunt blickte sie sich um und ließ sich dann einfach durch die Straßen der dunklen Stadt treiben. Obschon es keinerlei Licht zu geben schien, nahm Lenya doch alles wahr und konnte jedes Detail erfassen. Die Überflutung durch ihre verschärften Sinne, bescherte ihr eine Welle aus Übelkeit und sie hörte Maricus, der ihr spöttisch riet, es langsam angehen zu lassen. Sie beherzigte seinen Rat nachdem sie ihren Mageninhalt auf seine Schuhe ergossen hatte. Es war wirklich besser, wenn sie die Sinne Stück für Stück hochfuhr.
Maricus beobachtete seine Schülerin und... Partnerin. Vorausgesetzt, Lenya akzeptierte seine Wahl. Er lächelte, soviel das sie noch lernen musste. Soviel, das sich für ihn ändern würde, wenn sie blieb. Und...
Er stockte, irgendetwas stimmte nicht. Er fühlte Lenyas Präsenz nicht mehr. Lediglich das Gefühl eines ihrer Lächeln hing noch in der Luft, beinahe wehmütig, wie bei einem Abschied.
"Lenya?!?", rief er laut. Sämtliche Wesen erstarrten und wagten sich nicht zu rühren.
"LENYA?!?", noch mal hallte sein Ruf durch die lichte Nacht seiner Welt. Aber sie war und blieb verschwunden. "LENYA!!!!!"
Maricus stand ungläubig an der Stelle, an welcher er mit ihr seine Welt betreten hatte. Sie war fort und sie war für immer gegangen. Aber wie konnte das sein? Ihr Lebenswille war so unbändig gewesen, dass er ihr dieses Geschenk nicht hatte verwehren können und nun? Hätte er noch Tränen gehabt, dann wäre sein Gesicht feucht von ihnen gewesen. So starrte er nur ungläubig an die Stelle, an der sie zuletzt gewesen sein musste, während er langsam zu Boden sank. Das konnte nicht sein, er konnte sich nicht so getäuscht haben. Das war unmöglich. Absolut unmöglich.
~*~
Benommen kehrte er in ihre Wohnung zurück. Und sah sich dort um, alles roch noch nach ihr und selbst ihr Wesen war noch zu spüren. Ein wehmütiger, sehnsüchtiger Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. Das war nicht fair. Wieso?
In all der Zeit hatte er nie etwas gefordert und nun das. Maricus wollte nicht verstehen, wollte nichts mehr wahrnehmen. Er vergrub sich in seinen Erinnerungen.
~*~
"Maricus.", eine sanfte weibliche Stimme, neckend, ein wenig zu frech und selbstsicher, riss ihn aus seinen Gedanken. Aber sie war nur eine Erinnerung. Eben jene Erinnerung zog ihn an sich und zwang sein Gesicht auf Augenhöhe mit ihrem eigenen.
"Maricus.", sanft und streng, unnachgiebig und doch voller Trost. Nur langsam begriff er, dass sie wirklich vor ihm stand.
"Aber...", setzte er an.
"Hör auf zu denken, du grübelst viel zu viel...", ihr Spott war nicht zu überhören, aber es lag keinerlei Häme darin und es rang ihm ein mildes Lächeln ab. Sie lachte leise und schloss ihn in eine innige Umarmung, welche er erwiderte.
"Die Zukunft kann kommen, nicht wahr?"
"Ja, das kann sie."
11.04.2007
© Sean Dimitjana
Mittwoch, April 11, 2007
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1 Kommentar:
Schön zu lesen, eine angenehm ruhige Geschichte.
Wobei ich ehrlich zugeben muss, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich das Ende richtig interpretiere.
Felli
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